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Urteilskopf

115 V 413


57. Auszug aus dem Urteil vom 19. Dezember 1989 i.S. Schweizerische Unfallversicherungsanstalt gegen S. und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen

Regeste

Art. 10 ff., 16 ff., 36 Abs. 2 UVG.
- Der adäquate Kausalzusammenhang zwischen Unfall und psychischer Störung ist bei Vorliegen einer Begehrungsneurose - im Unterschied zu einer neurotischen Entwicklung mit Begehrungstendenz - zum vornherein zu verneinen (Erw. 12a und b).
- Art. 36 Abs. 2 UVG ändert am Erfordernis des adäquaten Kausalzusammenhangs nichts (Erw. 12c).

Erwägungen ab Seite 414

BGE 115 V 413 S. 414
Aus den Erwägungen:

12. a) Die Vorinstanz vertrat die Auffassung, gestützt auf die mit BGE 112 V 36 Erw. 3c geänderte Rechtsprechung müsse der adäquate Kausalzusammenhang nicht nur zwischen einem Unfall und einer psychischen Fehlentwicklung mit deutlicher Begehrungshaltung (wie er im vorliegenden Fall zu beurteilen war), sondern sogar bei einer (eigentlichen) Begehrungsneurose bejaht werden - vorausgesetzt, dass sie durch den Unfall verursacht worden sei, zu einer Erwerbsunfähigkeit geführt habe und vom Versicherten infolge einer entsprechenden psychischen Prädisposition nicht zu verantworten sei. Wenn die Begehrungsneurose ebenso wie somatische oder andere psychische Leiden als echtes Leiden anerkannt werde, für welches der Versicherte infolge psychischer Prädisposition nicht verantwortlich sei, so lasse sich eine unterschiedliche Behandlung nicht mehr rechtfertigen. Denn selbst in Fällen, in denen für ein bestimmtes psychisches Leiden der konstitutionellen Prädisposition grösseres Gewicht beizumessen sei als dem eigentlichen Unfallereignis, bleibe der Unfall als eine massgebliche Teilursache für den Gesundheitsschaden rechtlich relevant.
b) Dieser Auffassung kann, soweit sie sich auf die Begehrungsneurose bezieht, nicht beigepflichtet werden. Bei Vorliegen einer fachärztlich eindeutig ausgewiesenen Begehrungsneurose kommt dem Unfallereignis für die psychische Fehlentwicklung keine massgebende Bedeutung zu; vielmehr ist sie auf unfallfremde Faktoren zurückzuführen. Daher muss hier der für die Leistungspflicht des Unfallversicherers u.a. vorausgesetzte adäquate Kausalzusammenhang - im Unterschied zu einer psychischen Fehlentwicklung mit lediglich einer Begehrungstendenz - zum vornherein verneint werden. Eine Haftung für Begehrungsneurosen, bei denen sich nach SCHAER (Schweiz. Versicherungskurier, 1986, S. 155, Rz. 37) die "wohl extremste Zurechnungsfrage" stellt, besteht somit in der obligatorischen Unfallversicherung - im Gegensatz zum privaten Haftpflichtrecht - weiterhin nicht
BGE 115 V 413 S. 415
(BGE 112 V 37 Erw. 3c, BGE 104 V 31 Erw. 2b, BGE 103 V 87 Erw. 1, BGE 96 II 398 Erw. 2; MAURER, Unfallversicherungsrecht, S. 408; unzutreffend GRAFF, La route et la circulation routière, JdT 1986 I S. 437 f.). Die Vorinstanz hat übersehen, dass an die massgebende Bedeutung der Unfallursache in der sozialen Unfallversicherung - trotz der mit der erwähnten Praxisänderung relativierten Bedeutung des Vorzustandes - höhere Anforderungen gestellt werden als im privaten Haftpflichtrecht. Daher kann die Abgrenzung adäquater Unfallfolgen von inadäquaten in beiden Rechtsgebieten unterschiedlich ausfallen (BGE 113 II 91 Erw. 1c, BGE 96 II 398 Erw. 2; RKUV 1990 Nr. U 91 S. 108; vgl. auch SCHAER, Grundzüge des Zusammenwirkens von Schadenausgleichssystemen, S. 129 f., Rz. 361-363 mit weiteren Hinweisen).
c/aa) In diesem Zusammenhang ist auf die von DUC, in: Les névroses et la LAA, SZS 1983 S. 260 und SZS 1988 S. 225 ff., unter Berufung auf Art. 36 Abs. 2 UVG vertretene Auffassung hinzuweisen, wonach für die Leistungspflicht des Unfallversicherers ein adäquater Kausalzusammenhang zwischen Unfall und psychischer Störung nicht mehr vorausgesetzt werde und daher auch Begehrungsneurosen zu entschädigen seien, sofern der Versicherte nicht schon vor dem Unfall aus psychischen Gründen in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt gewesen sei. Nach jener Gesetzesbestimmung werden die Invalidenrenten, Integritätsentschädigungen und die Hinterlassenenrenten angemessen gekürzt, wenn die Gesundheitsschädigung oder der Tod nur teilweise die Folge eines Unfalles ist. Gesundheitsschädigungen vor dem Unfall, die zu keiner Verminderung der Erwerbsfähigkeit geführt haben, werden dabei nicht berücksichtigt.
bb) Die Auffassung DUCS lässt ausser acht, dass die Adäquanz des Kausalzusammenhangs ein Wesensmerkmal der sozialen Unfallversicherung darstellt, weshalb sie dem Sinn und Zweck des Art. 36 Abs. 2 UVG nicht gerecht wird. Sie übersieht, dass sich die Frage der Kürzung nach Art. 36 Abs. 2 UVG erst stellt, wenn überhaupt ein leistungsbegründender adäquater Kausalzusammenhang zwischen einem Unfall und einer Gesundheitsschädigung zu bejahen ist. Die Leistungskürzung setzt mithin das Bestehen eines adäquaten Kausalzusammenhangs voraus (MURER, Neurosen und Kausalzusammenhang in der sozialen Unfallversicherung, 2. Teil, in: SZS 1989 S. 21).
Die von DUC postulierte Auslegung geht - anders als BRUTTIN, Névroses et assurances sociales, Diss. Lausanne 1985, S. 104
BGE 115 V 413 S. 416
- ausserdem von der unzutreffenden Annahme aus, dass die Schwere des Unfalls im Rahmen dieser Bestimmung keine Rolle mehr spiele (SZS 1988 S. 228). Das Gegenteil trifft zu, indem aufgrund einer objektivierten Betrachtungsweise letztlich die Schwere des Unfalls entscheidend ist für die Frage, ob der adäquate Kausalzusammenhang zwischen Unfall und psychischer Störung bejaht oder verneint werden muss (vgl. BGE 115 V 138 Erw. 6).

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Erwägungen 12

Referenzen

BGE: 96 II 398, 112 V 36, 112 V 37, 104 V 31 mehr...

Artikel: Art. 10 ff., 16 ff., 36 Abs. 2 UVG